"Winter-Riegel" K11, Mythos oder Wahrheit? (Erstellt: 16.04.2020)
Ausgangslage
Manchmal gibt es Zufälle: Anfang April 2020 wurde der swisswaffen.com-Artikel über den
Karabiner 11 angepasst und der vorher vertretene "Winterriegel"-Mythos basierend auf Ernst Grenachers Buch abgeschwächt.
Wie ich nun, Mitte April 2020, von einem Leser informiert wurde, wird auf Facebook behauptet, die "Winterriegel"-Theorie wäre 100%ig falsch. Der Leser hat mir ein Dokument aus dem Bundesarchiv zugestellt, welches swisswaffen.com seit Jahren vorliegt. Der Beitrag auf Facebook, welcher nur als Screenshot vorliegt, da er in einer privaten Gruppe veröffentlicht wurde, soll die "Winterriegel"-Theorie ein für allemal widerlegen.
Soweit so gut.
Dokument E27#1000/721#18140*
Hier der Inhalt des Dokuments aus dem Bundesarchiv (Referenz BAR E27#1000/721#18140*):
(Zitat Beginn)
"Bern, den 21. Februar 1928.
An die eidg. Kriegsmaterialverwaltung Bern.
Ord. Gewehr und Karabiner
Die W+F Bern hat, um die Fabrikation einzelner Gewehrbestandteile rationeller zu gestalten, am Verschlussriegel einige kleine Aenderungen angebracht, die aber weder die Funktion noch die Festigkeit beeinflussen. Diese Abänderungen sind:
a) Anfräsen kleiner Flächen vorn am Fuss des Riegelgriffes und des Spannstollens hinter dem Gleitstollen.
b) Einfräsen von kleinen Rillen für bessere Reinigung und Fettung am Fusse von Spannstollen und Riegelgriff.
Wir legen zur Orientierung 4 neue und einen bisherigen Riegel bei, an denen die Abänderungen erkenntlich sind."
(Zitat Ende)
Im Facebook-Post ist erwähnt, dass die Informationen auf swisswaffen.com falsch seien. Danke oben genanntem Leser K.M. von swisswaffen.com kann dies nun untersucht werden; mit Dokumenten, Literatur und mit realen Beweisstücken.
Was wird im Mythos als "Winterriegel" bezeichnet?
Der Winterriegel soll entwickelt worden sein, um den Karabiner 11 wintersicherer zu machen, da er bei den Gebirgstruppen zum Einsatz kommen sollte. Der Mythos besagt, dass so ein Einfrieren des Riegels am Verschlussgehäuse verhindert werden soll. Der Mythos bezeichnet einen Riegel, welcher ca. 5mm weniger Basis am Verschlussriegel aufweist, als Winterriegel. Auf nachfolgendem Bild ist unten links ein "normaler" Riegel und oben rechts ein "Mythos-Winterriegel" abgebildet:
|
Unten links normaler Riegel, oben rechts Winterriegel |
Wie ist die "Winterriegel"-Mythos überhaupt entstanden?
Jetzt wo wir wissen, was so ein "Winterriegel" sein soll, möchte ich die Entstehung des Mythos genauer untersuchen:
Persönlich habe ich diese das erste Mal im Buch "Bewaffnung und Ausrüstung der Schweizer Armee seit 1817,
Handfeuerwaffen Gradzug-System (Band 4)", Seite 42, ganz am Schluss des Textes, gelesen. Das Buch ist im Jahr 1978 erschienen.
In den 1980er und 1990er Jahre war die Firma AMAZA (später AMA) aktiv und hat Waffenteile aus Armeebeständen verkauft. Schon in den 80er Jahren war ein "Riegel Winter-Ausführung" erhältlich. In der
Preisliste von 1994 ist der Riegel auf Seite 2, Position 25 aufgeführt.
Das Buch "
Die Repetiergewehre der Schweiz" (erschienen 1991) beschreibt auf Seite 165, dass Karabiner 11 hauptsächlich der letzten Produktionsjahre, mit Riegelgriff mit um 5mm verkürzten Ansatz ausgeliefert wurden. Das Wort "Winter", "Winterausführung" oder "Winterriegel" ist jedoch nicht (mehr) erwähnt!
Weiter wurde im
theswissriflesdotcommessageboard von Frank alias Guisan ein Beitrag erstellt (
hier klicken für den Beitrag), wo er von einem "Winterriegel" spricht. Auch er ist unsicher, ob das stimmt. Frank war grosser Kenner der Schweizer Gewehre und ist leider im Jahr 2015, zwei Wochen nachdem ich ihn das erste und einzige Mal persönlich in Interlaken treffen durfte, verstorben.
In Franks Todesjahr ist das aktuellste Werk über Schweizer Gewehre erschienen, das Buch "
Schweizer Militärgewehre Hinterladung 1860-1990 (Ernst Grenacher)" von Ernst Grenacher (erschienen 2015). Ernst Grenacher zweifelt auf Seite 441 am Mythos des Winterriegels und nennt die Möglichkeit, dass es sich um eine Produktionsvereinfachung gehandelt hat.
Der Eingangs erwähnt Facebook-Post scheint die Theorie von Ernst Grenacher aufzugreifen und versucht mit oben erwähntem Dokument aus dem Bundesarchiv den Mythos "Winterriegel" auszuräumen und zu beenden.
Mythos "Winterriegel", richtig oder falsch
Schon lange war mir bewusst, dass hier etwas seltsam sein muss. Leider habe ich mir die Zeit nicht genommen, dem auf den Grund zu gehen.
In der Sammlung habe ich Riegelgriffe gefunden, welche deutliche Änderungen gegenüber den "normalen" Riegelgriffen aufweisen, welche aber keinen "Mythos-Winterriegel" mit 5mm verkürztem Ansatz sind.
Doch schauen wir uns zuerst das zitierte Dokument des Bundesarchivs an; dieses gibt bekannt, dass zwei Änderungen ausgeführt wurden, Änderungen "a)" und Änderungen "b)":
a) Anfräsen kleiner Flächen vorn am Fuss des Riegelgriffes und des Spannstollens hinter dem Gleitstollen.
b) Einfräsen von kleinen Rillen für bessere Reinigung und Fettung am Fusse von Spannstollen und Riegelgriff.
Nun hat die Recherche mit den realen Teilen ergeben, dass die oben genannten Änderungen, welche allesamt Einfräsungen von Flächen und Rillen sind, tatsächlich durchgeführt wurden.
Die beschriebenen Änderungen lassen davon ausgehen, dass noch weitere Änderungen zur Produktionsvereinfachung vorgenommen wurden. Es ist tatsächlich so, dass dies sein könnte. Könnte. Darüber liegen (noch) keine Dokumente vor!
Doch hat die Recherche auch ergeben, dass diese Änderungen rein gar nichts mit dem "Winterriegel", d.h. mit dem um 5mm zurückversetzten Ansatz, zu tun haben!
Warum das?
Es liegen drei verschiedene Riegelgriffe vor, welche auf den Bildern 01 bis 07 mit den Varianten
sw-a,
sw-b und
sw-c beschrieben sind.
Variante
sw-a zeigt den ursprünglichen Riegelgriff, wie er hauptsächlich verwendet wurde.
Variante
sw-b zeigt den nach Spezifikationen a) und b) des obigen Dokuments geänderten Riegelgriff. Der effektive Griff ist immer noch der selbe wie bei Variante sw-a. Also KEIN "Winterriegel" nach Mythos! Siehe Bilder 02 und 03 sowie 05.
Variante
sw-c zeigt dann einen Riegelgriff wie Variante sw-b, aber MIT um 5mm verkürztem Ansatz. So, wie der Mythos einen "Winterriegel" bezeichnet. Dazu siehe Bild 05.
Thesen
Nach aktuellem Wissenstand können nun folgende Thesen definiert werden.
These 1:
Das Dokument, welches swisswaffen.com aus dem Bundesarchiv hat und welches auch auf Facebook erschienen sein soll, ist unvollständig. Es gibt noch weitere Änderungen (zum Beispiel unter c)), welche nicht aufgeführt sind. Diese These ist unwahrscheinlich, da sonst die Variante
sw-b des Riegels nicht existieren dürfte.
These 2:
Es wurden weitere Änderungen an den Riegelgriffen vorgenommen, welche in anderen Dokumenten festgehalten wurden (oder nicht).
These 2a:
Die weiteren Änderungen wurden wiederum aufgrund von Produktionsvereinfachungen vorgenommen.
These 2b:
Die weiteren Änderungen wurden vorgenommen, um ein Einfrieren des Riegels am Verschlussgehäuse zu verhindert.
These 1 kann mit grosser Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Die Thesen 2a und 2b sind beide möglich und es kann keine der beiden Thesen bestätigt oder ausgeschlossen werden.
Schlussfolgerungen
So stehen wir wieder ganz am Anfang!
Der "Winterriegel"-Mythos wird nach aktuellem Wissensstand (zurecht) weiterleben, bis jemand ein Dokument findet, welche These 2a oder 2b bestätigt.
Der von K.M. gemeldete Facebook-Post ist spannend, aber hat sich nach diesen Untersuchungen nachweislich als falsch herausgestellt.
| | | |
Bild 01 | Bild 02 | Bild 03 | Bild 04 |
_ |
| | | |
Bild 05 | Bild 06 | Bild 07 |
|